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5 Uhr in Stuttgart

Veröffentlicht am

Susan schaut auf ihre Uhr und verfolgt die zuckenden Bewegungen des schmalen Sekundenzeigers, der unaufhaltsam der 12 entgegen strebt. Im Moment ist es kurz nach fünf Uhr. Zielstrebigen Schrittes gleiten ihre Füße, die in schwarzen Turnschuhen stecken, über den kühlen Boden der asphaltierten Straße. Ihre weiße, beinah gespenstig blasse Haut, deren Reinheit nur von einigen einsamen Sommersprossen unterbrochen wird, hebt sich von der totengleichen Dunkelheit ab. Ihr aus einem luftigen dunkelblauen T-Shirt ragender schlanker Kopf, mit dem kleinen spitzen Mund und der leicht fleischigen schiefen Nase, die nicht recht in ihr Gesicht passen mag, ist von schulterlangen roten Haaren umgeben. Das Licht reflektiert seinen Glanz und hauchte ihm Leben ein. Wie ein wogendes Feuer bewegt es sich, während sie jetzt von der Wangener Straße in die Ulmer Straße einbiegt. Neben ihren Haaren, meinen ihre Freunde, seien das schönste an ihr ihre Augen. Eingerahmt von tiefschwarzen Wimpern, die einen zackigen Rahmen für ihre dunkelgrünen Pupillen bilden, wirken sie wie zwei außergewöhnliche Blumen mit einzigartiger Erscheinung. Während sie so durch den noch unbelebten Bezirk Stuttgart-Wangen wandelt, in dem der Rest der Menschen noch friedlich in seinen Betten schläft, kommt ihr eine Strophe aus Joseph von Eichendorffs Gedicht Frühe in den Sinn.

Im Osten graut's, der Nebel fällt,

Wer weiß, wie bald sich's rühret!

Doch schwer im Schlaf noch ruht die Welt,

Von allem nichts verspüret.

Auf ihrem drei-minütigen Fußweg von der U-Bahnhaltestelle Brandle begleitet sie ein Buchfink. Sie kann ihn wegen der Dunkelheit nicht ausmachen, doch sie weiß, dass sein Gefieder von schwarz-weißen Schwanzfedern und einem braungrauen Körper ausgemacht ist. Er ist nicht so bunt wie der lustige Papagei, der immer bei dem Mann mit dem Saxofon in der Stuttgarter Mitte zu finden ist, dennoch kann der Vogel als bezaubernd schönes Kunstwerk, geschaffen von Mutter Natur, bezeichnet werden.

Auf Höhe einer unabhängigen Tankstelle, die durch fahles gelbes Kunstlicht erhellt wird, verlangsamt sie ihr Tempo und bleibt stehen. Während sie so dasteht, die dünnen Arme in die Seiten gestemmt und den Kopf in die Höhe gereckt, so dass der leichte, säuselnde Wind, der ein paar einzelne tote Blätter über den Boden schiebt, ihre Haare bewegt, steigt eine Erinnerung in ihr auf, welche sie nur zu gern vergessen hätte. Sie füllt ihren Kopf wie eine dichte, von Feuchtigkeit schwere Nebelschwade, die sich nicht mit den Händen vertreiben lässt. Es war ein Tag wie dieser gewesen, vor genau 15 Jahren. Früh am Morgen, als der Rest der Welt noch schlief. Das Schluchzen ihrer Mutter Renate riss sie aus dem Schlaf. Zu dieser Zeit war sie dem Alkohol noch nicht verfallen gewesen, das kam erst später mit dem Einzug ihres Stiefvaters. Vom Erdgeschoss aus hörte sie ihre erstickten Schreie und die gedämpften Stimmen zweier Männer. Sie hatte gewusst, dass etwas Schlimmes passiert war. Sie wollte nicht, dass es sie erreichte. Wollte nicht, dass dieses schaurige Schreckgespenst seine Krallen nach ihr ausstreckte und sie mit sich in die Finsternis zog. Kurze Zeit später jedoch erzählte ihr ein Polizist, einer der beiden, deren Stimmen sie zuvor gehört hatte, vom tödlichen Unfall ihres Daddys. Ihr Daddy war Lastkraftfahrer gewesen. Ein Reifen sei geplatzt und er habe die Kontrolle über das Fahrzeug verloren. Sie konnte damals noch nicht genau verstehen, was das bedeutete. Sie wusste nur, dass sie ihren Daddy nie wieder sehen würde. Das von ihr so gefürchtete Ungeheuer hatte sie verschont, aber ihn mit sich gerissen. Der Mann in Grün hatte versucht ihr die Nachricht schonend beizubringen, doch keine Sanftheit konnte sie über ihren Schmerz hinweg trösten. Nie hatte sie ihrer Mutter verziehen, dass diese in der folgenden Zeit so in ihrem eigenen Schmerz aufging, dass sie sich nicht um das Leid ihrer einzigen Tochter kümmerte. Eine Hand auf ihrer Schulter ließ sie zusammenzucken. „Ist alles ok bei dir Sue?“ Der Mann, der neben sie getreten war, ist Tommy. Nach ihm hat sie davor vergeblich Ausschau gehalten. Seine breite Gestalt mit den muskulösen Armen und den kräftigen Schultern lassen Susan neben ihm wie ein eine Blume neben einem mächtigen Baum wirken. Jetzt steht er bei ihr und blickt ihr fragend in die Augen: „Stimmt was nicht bei dir? Du siehst aus wie ein verschrecktes Reh, dass im Lichtkegel eines herankommenden Autos stehen bleibt.“ „Nein, alles ok bei mir. Ehrlich.“ Sie hofft, dass er die Lüge nicht bemerkt. Sein kritischer Blick zeigt ihr jedoch, dass er nicht so dumm war ihr zu glauben, sie jedoch nicht weiter drängen wollte. Während sie laufen, muss Susan sich anstrengen, um mit seinen großen Schritten mithalten zu können. „Also gut Sue, ich hab den Transporter da geparkt, wo wir ihn immer abstellen. Es war zwar schwer um diese Uhrzeit noch einen Parkplatz zu finden, aber ich hab es geschafft.“ „Danke Tommy, du bist der Beste.“ Sie grinst ihn an. Die Nebelschwade hatte sich fast verzogen und nur das leichte Ziehen an ihrem Herz erinnerte noch an sie. Susan kramt einen Zettel aus ihrer Tasche, auf dem diverse Lebensmittel vermerkt sind. Allem voran aber Gemüse- und Obstsorten. „Schau, die Sonne geht auf!“ Tommy deutet mit seiner Hand in den Himmel. Er hat recht denkt Susan. Die ersten pfeilartigen Strahlen der Morgensonne schießen empor und erleuchten diesen Morgen, als sie sich in die Luft schwingen und das dunkle Tuch der Nacht über Stuttgart durchstoßen. Erneut wirft sie einen Blick auf ihre Uhr. 5:20. Sie müssen sich beeilen. „Lass uns etwas schneller laufen. Der Markt hat schon drei Stunden offen und ich will nicht die letzten Reste kaufen müssen.“ „Ist das jetzt meine Schuld, dass du heute später dran bist als sonst?“ Er bleibt stehen und hält seine Hände fragend in die Luft. „Natürlich nicht! Du kannst bei der Bahn aber gerne deine Beschwerde einreichen. Meine Schuld war es nämlich auch nicht!“ Susan zieht ihn an seinem Sweatshirtärmel weiter den Weg entlang. Scherzhaft kneift er sie in die Seite und ihr strafender Blick bringt ihn zum Lachen: „Ich liebe es dich zu ärgern, Sue.“ Sie geht nicht darauf ein und zerrt ihn mit sich. Kurz darauf kommen sie endlich am Eingang des Stuttgarter Großmarktes an. Jedes Mal genießen beiden den Eindruck, der sich ihnen bietet. Die Hektik und Lautstärke, hervorgerufen vom Stimmengewirr hunderter Menschen, bilden einen überraschenden Kontrast zur frühmorgendlichen Stille und Einsamkeit. Lebensmittel aller Art und in allen Farben sind in Holz- oder Plastikpaletten zu schiefen Türmen gestapelt und werden zum Verkauf angeboten. Auch duftende und farbenfrohe Blumen werden in übergroßen Mengen angepriesen und wechseln den Besitzer. Die grauen, sterilen Fabrikhallen verstärken jedes Geräusch, ebenso wie die kargen Wände nicht von der gebotenen Farbenpracht ablenken, sondern sie noch mehr herausheben. Der süße Geruch nach frischen Früchten steigt Susan in die Nase. Die Luft weht den Duft von reifen Äpfeln und saftigen Erdbeeren herüber. Als beide weiter in das Herz des Marktes vordringen, gesellen sich auch andere Aromen zu den ihnen bekannten. Die exotischen Düfte nach selten Gerochenem stehen im Raum. Hier werden kolumbianische Curubas verkauft. Die bananenförmige Frucht mit dem orangefarbenen Fruchtfleisch, das leicht geleeartig ist, weckt in Susan einen aromatischen sauren Geschmack im Mund. Guaven, Pitahayias und Kiwani -Melonen werden ebenso feilgeboten. Die Duftwolken scheinen Susan einzuhüllen und lasten schwer auf ihren Sinnen. Die Farbenpracht, die ihr am Anfang so liebreizend erschien, scheint nun ein wirres Muster aus grellen Punkten zu sein, die ihre Augen blenden. Die Gerüche versuchen ihre Nase zu verstopfen und die widerliche Süße, die von überall auf sie eindringt, verursacht ihr Übelkeit. Während sie fällt, wendet sie den Blick von dem Mann ab, den sie neben dem Guavenstand ausgemacht hat. Ein Mann mit kurzem dunkelbraunem Haar, das er sich gerade aus dem Gesicht streicht, so dass sie seine grünen Augen sehen kann, die die Farbe des Dschungels zu haben scheinen. Der Mann, dessen Gesicht dem ihres toten Vaters so ähnlich sieht.

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